Haben Sie schon einmal einen wichtigen Menschen in Ihrem Leben verloren? Wie ist er Ihnen „abhanden“ gekommen? Haben Sie versucht, ihn zurückzugewinnen? Ich bekam in der letzten Woche ein Gespräch zweier Männer mit, die in einem Verein führende Rollen einnehmen. Sie kamen während dieses Gesprächs einvernehmlich zu dem Schluss, dass sie keinem Menschen mehr hinterherlaufen wollen. Das bezeugten sie gewissermaßen im Einklang. „Wir laufen keinem Menschen mehr hinterher“ – diese Worte haben mich seitdem zum Nachdenken gebracht. Die beiden Männer arbeiten mit Kindern, und Kinder sind nicht immer pünktlich und greifbar. Wir kennen es von uns selbst, wie schwer es manchmal sein kann, immer verlässlich zu bleiben. Die Männer waren enttäuscht und spürten keine Energie mehr. Der Ton in ihrer Sprache drückte sowohl ihre Wut als auch ihre Resignation aus.

Jesus ist den Menschen immer hinterhergelaufen. Darin war er unermüdlich. „Gottes Leidenschaft ist der Mensch“, las ich vor Jahren. Diese Leidenschaft hat Jesus in sich aufgenommen und aus ihr heraus hat er zusammen mit den Menschen gelebt. Vor allem um die Kleinen und Schwachen, um jene, die traurig sind oder klein gemacht wurden, hat er sich gesorgt. Niemals hat er einen Menschen fallen gelassen. Wenn ich darüber nachdenke, so spüre ich eine gewisse Erleichterung und ein Gefühl von Sicherheit. Sollte ich mal vom Weg seiner Liebe abkommen, so weiß ich, dass er auch mir hinterherlaufen wird. Wenn ich nicht mehr in seiner Nähe sein und sein Wort nicht mehr hören kann, wird er immer noch nach mir suchen. Jesus ist ein „Nachläufer“, der niemals aufhören wird, den Menschen hinterherzulaufen, denn seine Leidenschaft für den Menschen hat er ein Leben lang in seinem Herzen bewahrt.

Wenn wir im Alten Testament davon lesen, wie das israelitische Volk sich beim Exodus von Jahwe entfernt, dann überrascht es auf den ersten Blick, dass sogar er die Geduld verliert und Mose versuchen muss, ihn zu besänftigen. Auf der anderen Seite zeigt diese Szene, wie mühsam es manchmal mit den Menschen sein kann. Aber Jesus hat trotzdem bis zuletzt keinen aufgegeben. Das zeigt u.a. das heutige Evangelium, in dem er seine Leidenschaft anhand einer Tiererzählung verdeutlichen möchte.

Wer schon einmal in Israel war, weiß, dass Schafe in dieser kargen und trockenen Landschaft Raum brauchen, um Nahrung zu finden. Der Hirte muss ihnen Weite schenken, damit sie leben können. Auch wenn er einen guten und liebevollen Blick auf seine Schafe hat, kann es daher vorkommen, dass die Tiere manchmal aus seinem Blickwinkel verschwinden, weil sie in seiner Nähe nichts mehr zu fressen finden konnten. Auf diese Weise kann ein Schaf verlorengehen. Wie geht der Hirte mit diesem Verlust um? Im Lukasevangelium lesen wir, dass er hundert Schafe zurücklässt, um dem einen verlorenen Schaf nachzugehen. Wie oft opfert man im Leben den Einzelnen für die Masse? Wie oft nimmt man den Verlust eines Menschen in Kauf, um das Ganze zu erhalten? In Johannes 10,11 bekennt Jesus: „Ich bin der gute Hirte“. Als solcher hat er sich stets um den Einzelnen gesorgt. Den Verlorenen hat er niemals verlorengehen lassen. Das war seine Grundhaltung und das bleibt seine Grundhaltung.

Nun möchte ich diesen eindeutigen Umgang Jesu, mit dem Verlorenen umzugehen, auf unser Leben übertragen. Gehen wir selbst den Menschen hinterher, die uns verlorengegangen sind? Nehmen wir die Mühsal auf uns, auch wenn wir wissen, dass unsere Versuche nicht immer von Erfolg gekrönt sein werden? Sind uns die Menschen die Mühsal wert?

Diese Fragen sind wichtig. Sie dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es immer wieder Erfahrungen im menschlichen Leben gibt, in denen es sogar besser ist, nicht hinterherzulaufen, sondern sich zu lösen.

In diesen Zeiten verlassen sehr viele Menschen die Kirche. Wer läuft ihnen hinterher? Als Menschen auf die hohe Zahl an Kirchenaustritten in St. Stephanus und St. Anna hingewiesen haben, bekamen sie aus der Führungsetage unseres Bistums sinngemäß die Antwort, dass es ihnen auch leid täte, aber dass das Bistum genügend Rücklagen gebildet hätte. Was ist das für eine innere Haltung? Wie empfinden Menschen es, wenn sie spüren, dass sie mit ihrer eigenen Identität nicht mehr erwünscht sind und sich nicht einbringen können, wie es ihrer Wahrhaftigkeit entspricht? Wie sollen sie sich verhalten, wenn ihre kritische Haltung nicht mehr gehört werden will? Sie gehen irgendwann verloren und müssen es tragen, dass man in der Kirche mit „Gott sei Dank“ darauf reagiert. Das besorgt mich schon wegen der Bedeutung des Wortes ‚katholisch‘ – ‚allumfassend‘. Wir brauchen verschiedene Meinungen in der Kirche und müssen Wege finden, in denen die Vielfalt zum Tragen kommt. Wenn wir uns mit Menschen und ihren Ansichten schwertun, gilt es, das Nachgeben zu üben.

Häufig sind es Enttäuschungen und Vertrauensverluste mit der Institution Kirche und ihrer obersten Leitung, die einen Kirchenaustritt ins Rollen bringen. Der Kern der christlichen Botschaft – wie die Auferstehung Jesu – wird selten infrage gestellt. Vielmehr fragen Menschen sich, ob die kirchliche Hierarchie dem Willen Jesu entsprochen hätte. Sie fragen sich, inwiefern diese Hierarchie das Vertuschen der Missbrauchsfälle begünstigt hat. Als auf der vierten Synodalversammlung des Synodalen Weges nun die Annahme des Grundtextes zur Sexualmoral am Abstimmungsverhalten der Bischöfe gescheitert ist, haben Menschen sich zu Recht gefragt, ob das eine Machtdemonstration war, die ihnen den Verbleib in der Kirche unerträglich machen wird. Gut überlegte Reformen werden wieder keine Anwendung finden.

Die Menschen gehen der Kirche verloren. Gerade sind das vor allem jene, die ihre Gedanken in diese Kirche hineintragen möchten, um sie lebendig zu halten. Die Kirchenobrigkeit zeigt kaum Bereitschaft, die Gründe der Ausgetretenen zu sehen und sich selbst infrage zu stellen. Diejenigen, die gegangen sind, sollen in ihren Augen den ersten Schritt tun. Ich wünsche mir dann die Haltung, wie Jesus sie hatte. Es wäre gerade notwendig, unermüdlich aufzustehen, den Verlorenen nachzugehen und ihnen in der Kirche Gestaltungsräume zu ermöglichen. Solch ehrliche und faire Auseinandersetzungen eröffnen oft neue, lebendige Wege.

Jesus lässt niemanden fallen. Mensch und Schöpfung sind seine Leidenschaft. Vor Jahren sah ich ein Bild, auf dem Jesus abgebildet war, wie er den toten Judas wie ein Schaf auf seine Schultern gelegt hatte, um ihn nach Hause zu tragen. Selbst dem, der ihn – den Evangelien nach – verraten und dem Tod ausgeliefert hat, ist er hinterhergelaufen. Möge es auch uns gelingen, Wege zu finden, die zueinander und zum Leben führen.

Auf der Suche nach dem Verlorenen

24. Sonntag im Jahreskreis

Lk 15,1-32

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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