Wenn wir mit Menschen sprechen, spüren wir sehr schnell, ob es ein gutes Gespräch wird. Wir spüren, ob der andere uns zugeneigt ist und ob er uns wirklich zuhört. Wir spüren ebenfalls, ob wir selbst diesem anderen zuhören möchten. Ich bin sehr sicher, dass Jesus im heutigen Evangelium genau gespürt hat, mit welcher Absicht der Gesetzeslehrer auf ihn zugekommen ist. Er wollte Jesus auf die Probe stellen oder, etwas drastischer ausgedrückt, er wollte ihm eine Falle stellen.

Jesus war es natürlich gewohnt, sich in permanenten Auseinandersetzungen mit der jüdischen Obrigkeit zu finden. Seine Art der Auslegung der heiligen Schriften war für die Gesetzeslehrer und Pharisäer anstößig. Sie hatten sich selbst zur alleinigen Autorität in Sachen Schriftinterpretation erklärt, meinten also zu wissen, wie Gottes Wort auszulegen ist und welcher Weg zu ihm führt. Die Obrigkeit hat den Menschen ihre Auslegung vorgegeben und die Gläubigen mussten dem folgen. Daher hat sie Jesu Auslegung der Schrift steten Widerstand entgegengebracht. ‚Wo soll Jesus überhaupt studiert und die heiligen Schriften kennengelernt haben? Was bildet er sich eigentlich ein? Wo kommen wir denn hin, wenn jeder die Worte des Mose selbst kommentiert?‘, werden die Schriftgelehrten sich gefragt haben. Jesus hätte diesen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen können, die Gespräche abbrechen können. Er hätte fliehen, sich aus dem Staub machen können. Stattdessen hat er sich den Anfeindungen gestellt, weil er wusste, dass er einen Auftrag hatte. Er sollte und wollte die Liebe Gottes zu den Menschen tragen.

Als ein Gesetzeslehrer aufsteht, auf Jesus zukommt und ihn fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen, weiß Jesus, dass er nicht aus inhaltlichem Interesse gefragt wird. Er ist darum auf der Hut. Er nimmt zuallererst die Worte der Tradition auf, um nicht sofort den Konflikt zu eröffnen. Er bittet den Gesetzeslehrer, ihm zu berichten, was zu dieser Frage im Gesetz steht. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst“, zitiert der Gesetzeslehrer. Die Frage ist beantwortet, aber weil es dem Gesetzeslehrer nicht gelungen ist, Jesus eine Falle zu stellen, bohrt er weiter: „Und wer ist mein Nächster?“

In der jüdischen Tradition war der Nächste in erster Linie der Familienangehörige, in zweiter Linie ein entfernterer Verwandter und schließlich auch der Fremde, der ins Land gekommen ist. Wer hingegen dem jüdischen Glauben nicht verbunden war, wie beispielsweise die Heiden, der durfte sich auch nicht als Nächster eines Juden fühlen. Aus dieser Tradition hat das jüdische Volk immer gelebt. Im Gleichnis, das Jesus dem Gesetzeslehrer auf seine zweite Frage erzählt, setzt er die Protagonisten bewusst ein, um diese Problematik aufzunehmen.

Ein Mann ist zwischen Jerusalem und Jericho unter die Räuber gefallen und liegt nun halbtot auf dem Weg. Sowohl ein Priester als auch ein Levit kommen denselben Weg, sehen ihn und gehen vorüber. Sie sehen ihn und sehen ihn doch nicht. Sie sehen den Notleidenden vielleicht mit ihren Augen, aber nicht mit ihrem Herzen. Sie lassen sich nicht von ihm berühren. Der Priester, der Levit – die Obrigkeit – gehen einfach vorbei und lassen einen verletzten Menschen auf dem Weg liegen. Sie spüren kein Mitleid. Vor dem Gesetz haben sie mit diesem Verhalten sogar recht. Wenn sie von Jerusalem kommen, haben sie im Tempel wahrscheinlich gerade den Kult verrichtet. Daraufhin mit einem Sterbenden oder mit Blut in Berührung zu kommen, würde sie unrein machen. Dieses Gesetz haben sie gelernt und niemals hinterfragt. Jesus zeigt bereits an dieser Stelle, wie unmenschlich es sein kann, einem Gesetz zu folgen, ohne es zu reflektieren und zu hinterfragen.

Der dritte Protagonist, der in Jesu Gleichnis den Weg entlangkommt, ist ein Samariter. Seine Reaktion stellt einen Kontrast zu den ersten beiden Reaktionen dar. Er sieht den Notleidenden, wird von Mitleid berührt, geht zu ihm hin und versorgt seine Wunden. Er kümmert sich sogar noch darum, dass der verletzte Mensch in den folgenden Tagen versorgt wird. Ausgerechnet ein Samariter! Für den Gesetzeslehrer ist ein Samariter kein wirklicher Jude. Grund dafür ist die Tatsache, dass Samariter sich auf die fünf Bücher Mose fokussieren und nicht die gesamten heiligen Schriften berücksichtigen. Folglich können sie sich mit dem Gesetz nicht wirklich auskennen. Sie sind zu oberflächlich und ihr Glaube ist kein wahrer Glaube – so der Vorwurf. Hinzu kommt, dass die Assyrer im 8. Jh. v. Chr. in den Norden Israels eingezogen sind, wo die Samariter Zuhause sind. Viele samarische Frauen sind Mischehen mit den heidnischen Assyrern eingegangen. Auch das raubte ihnen das Ansehen wirklicher Juden. Sie haben den Glauben verraten – so der Vorwurf.

Solch ein Samariter, der bei der jüdischen Obrigkeit verhasst ist, benimmt sich im Gegensatz zu Priester und Levit wie ein mitfühlender Mensch. Er sieht nicht nur mit seinen Augen, sondern hat ein offenes Herz für die Not der Menschen. „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, sagt Antoine de Saint-Exupéry in seiner Geschichte „Der kleine Prinz“. Der Samariter sieht mehr, weil sein Herz weit ist. Er leidet mit und handelt. Darauf schaut Jesus. Das ist für ihn der Weg des Glaubens. Es geht nicht darum, alle Gesetze zu kennen und blind einzuhalten, sondern diese Gesetze mit den Augen der Liebe zu sehen und entsprechend anzuwenden. All die Gottesdienste, die Menschen feiern, werden erst dann zum Heil, wenn sie sich im Dienst am Nächsten bewahren. Das ist ihr tieferer Sinn. Wer sie feiert, soll dabei im Herzen verwandelt und den Menschen in der Welt zum Segen werden. „Jesus Christus, forme unser Herz nach Deinem Herzen“ – so lautet ein Gebet aus dem Messbuch, das ich gern bete und auf mich wirken lasse.

In der St. Stephanus-Kirche mussten vor vielen Jahren die Türen der Seitenkapelle erneuert werden, weil sie marode waren. Die Türgriffe habe ich damals gerettet und vor der Kirche an die Mauern schrauben lassen. Wenn man seitdem durch das Hauptportal in die Kirche hineingeht, liest man die Worte „Hier geht man hinein, um Gott zu lieben“. Geht man hinaus, so liest man die Worte „Hier geht man hinaus, um den Menschen zu lieben“. Das ist das Entscheidende.

Am Ende des Gleichnisses gibt Jesus die Frage des Gesetzeslehrers an diesen zurück, dreht sie aber um. Er fragt nicht: ‚Wer ist nun dein Nächster?‘, sondern: „Wer von diesen Dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde?“ Damit spricht er den Gesetzeslehrer und seine Verantwortung persönlich an und möchte wissen, was dessen Inneres ist, wenn er mit anderen in Beziehung tritt: ‚Welchen Menschen möchtest du der Nächste sein? Bist du wie die beiden Seelsorger, die ihre Herzen verschließen, oder bist du wie der scheinbar nicht gläubige Samariter, der sein Herz für einen Notleidenden öffnet?‘ Diese Fragen muss sich jeder Christ stellen. Wir sollen nicht nur auf das hören, was die anderen sagen, was eine Institution vorschreibt, was die Mächtigen bestimmen. Nicht die Kirche darf das Über-Ich des Menschen werden, darf ihn nicht durch Gesetze, Vorschriften, Werte und Normen lenken. Vielmehr sollte jeder einzelne Mensch durch die göttliche Liebe eine Ich-Stärke aufbauen, die ihn unabhängig von solchen Führungsinstanzen und stattdessen offen für die Not des anderen macht. Wem möchten Sie der Nächste sein?

Die Antwort Jesu ist eindeutig. Die Nächstenliebe richtet sich immer auf jenen Menschen, der am Boden liegt. Jesus wendet sich auch in diesem Evangelium den Schwachen zu, um sie aufzurichten. Der eigentliche Auftrag der Kirche lautet daher, den Schwachen beizustehen und sie zu stärken. Vielleicht hätte sich dieser ursprüngliche Auftrag besser durch die Geschichte erhalten, wenn das Christentum im 4. Jh. unter Kaiser Konstantin nicht Staatsreligion geworden wäre. Sich mit den Mächtigen zu verbünden, hat der Kirche nicht gutgetan. Erst dadurch wurde eine Kirche, die verfolgt wurde, zu einer Kirche, die andere verfolgt hat.

Ebenso sieht man an den Missbrauchsfällen, dass die Obrigkeit der Kirche sich nicht mit den Schwachen verbündet hat. Das Wohl der Kinder hatte für sie lange Zeit überhaupt keine Bedeutung. Es ging vielmehr darum, den großen Apparat der Kirche zu schützen. Ihre Macht und ihr Heil haben stets den Vorzug erhalten, während die Schutzbedürftigen in diesem System die Leidtragenden waren. Wenn sich die Kirche in dieser Frage nicht verändert, hat sie keine Existenzberechtigung mehr. Ist sie nah bei den Schwachen und bei den Menschen in Not oder möchte sie sich weiter mit den Starken und Mächtigen verbünden, um selbst auf der Seite der Macht zu stehen?

Jesus fordert den Gesetzeslehrer auf, wie der barmherzige Samariter zu handeln. Ich wünsche uns, dass dieser Auftrag für uns als Gläubige in der Kirche wesentlich wird und dass auch wir unser Herz für die Menschen, insbesondere für die Schwachen, öffnen.

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Gott, Du bist wie eine liebende Mutter und ein liebender Vater.

Wir rufen zu Dir:

  • Schenke allen Menschen den Mut, immer wieder für Liebe, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit aufzustehen.

Du Gott des Mutes, wir bitten Dich erhöre uns.

  • Erfülle unser Gerechtigkeitsdenken auch immer mit dem Geist Deiner Barmherzigkeit.

Du Gott der Barmherzigkeit, wir bitten Dich erhöre uns.

  • Stärke alle Menschen, die ein Amt in der Kirche haben, mit dem Geist Deiner Liebe, dass sie nicht nur aus den Worten der Gebote und des Gesetzes handeln, sondern sich vom Leben der Menschen berühren lassen.

Du Gott der Liebe, wir bitten Dich erhöre uns.

  • Mache uns bereit, den Menschen zu dienen – immer – und gerade in der Not.

Du Gott des Dienens, wir bitten Dich erhöre uns.

Denn Du, Gott, willst, dass unser Leben für uns und andere zum Segen wird. Dafür danken wir Dir heute und einmal in Ewigkeit.
Amen.

Der barmherzige Samariter – eine Skandalgeschichte

Hochfest am 29. Juni

Lk 10,25-37

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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