Was hat Sie in Ihrer Kindheit geprägt? Welche damaligen Erfahrungen der Freude und des Leids haben Ihren Weg mitbestimmt? Wir wissen aus der Psychologie, dass die Liebe, die Kinder erfahren, ihr Leben genauso prägt wie dasjenige, was sie aushalten müssen. Je behüteter ein Kind aufwächst, desto besser sind die Voraussetzungen für sein Leben. Bei jeder Tauffeier sage ich den Eltern daher, dass sie ihrem Kind niemals genug Liebe schenken können. Im Grunde sollten sie ihre Liebe verschwenden, damit aus dem Kind selbst einmal ein Mensch mit einem liebenden und nicht mit einem verschlossenen Herzen wird.

Im heutigen Evangelium spürt man die Fülle an Liebe, die die christliche Botschaft den Menschen vermitteln möchte. Sie nimmt von einer Kindheitserfahrung ihren Ausgang. Ein Vater hat zwei Söhne. Der jüngere Sohn bittet den Vater um seinen Erbteil und zieht in ein fernes Land, wo er sein Vermögen verprasst. Was könnte wohl der Grund dafür sein, dass dieser Sohn sein Zuhause verlassen möchte? Warum lässt er den geschützten Ort seiner Familie hinter sich für die Fremde? Vielleicht hat er sich stets als Zweiter gefühlt. Vielleicht hatte er gegenüber dem älteren Bruder nie eine Chance. In Familien ist es oft schwer, die eigene Rolle zu finden und Wertschätzung zu erfahren. Ein Kind leidet unter dem Eindruck, dass seine Geschwister bevorzugt werden. Vielleicht spürt der jüngere Sohn daher die Notwendigkeit, aus dem Schatten des Bruders herauszutreten und gewissermaßen das Gleis zu wechseln. Vielleicht will er auf neuen Wegen die eigene Identität finden und sich zu sich selbst entwickeln. Dazu muss er sich aber zuerst einmal lösen und die Sicherheiten, die ihn stützen, aufgeben. Er muss das Risiko des Lebens eingehen und seine Heimat hinter sich lassen, um selbstständig zu werden.

Der jüngere Sohn kommt in die Fremde. Wie mag es sich dort für ihn anfühlen? Er ist sicher neugierig auf das Neue, vielleicht aber auch von einer gewissen Traurigkeit umgeben angesichts dessen, was er aufgegeben hat. Unter fremden Menschen, in einer anderen Kultur und innerhalb einer fremden Sprache wird er sicherlich Einsamkeit spüren. Menschlicher Austausch fällt in der Fremde schwer. Mit den Fragen des Lebens ist er allein. Diese Schwäche erkennen vielleicht andere und nutzen sie brutal aus. Sie wissen, dass der jüngere Sohn sein gesamtes Erbe dabei hat und leben auf seine Kosten. Sie geben ihm „todsichere Tipps“ zum Leben, die ihn Schritt für Schritt zu Boden sinken lassen. Als er alles Geld durchgebracht hat, wird er zum Schweinehüten geschickt. Als Jude kann er nicht tiefer fallen. Er muss tun, was seiner jüdischen Kultur und seinem Glauben zuwider ist, um zu überleben.

Der jüngere Sohn wollte sich entwickeln und an seiner Persönlichkeit arbeiten. Tatsächlich ist er aber aus dem Leben herausgefallen. Er ist menschlich am Ende. Er hat alles verloren und spürt die ganze Hilflosigkeit, Kraftlosigkeit und Verlorenheit, die damit einhergehen. Was macht er in solch einer Situation, in der er selbst Schande über sich gebracht hat und sich dafür schämt?

Er erinnert sich an seinen Vater, hat als letzte Kraftquelle immer noch ein Vertrauen in sich, dass dieser ihm helfen könnte. Er kehrt zum Vater zurück und bittet ihn, einer seiner Tagelöhner werden zu dürfen. Letztlich ist dies als Bitte um Gnade und Barmherzigkeit zu verstehen. Der jüngere Sohn weiß, dass er allein nicht mehr hochkommen wird. Kein Recht kann ihn mehr schützen. Mitgefühl erwartet er nicht mehr. „Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein“, möchte er dem Vater gestehen. Es bleibt ihm daher nichts anderes übrig, als sich demütig und reuevoll an den Vater zu wenden.

Diesem entwürdigendem Zustand tritt der liebende Vater entgegen. Vom Herzen her war sein Blick immer auf den Sohn gerichtet, weil er sein Herz ein für allemal bedingungslos an den Sohn verloren hatte. Er hat sich um ihn Sorgen gemacht, konnte aber nicht mehr für ihn sorgen. Der Abschied war schmerzhaft und enttäuschend für ihn. Sein Herz war gebrochen. Die Angst, dass es zu keinem Wiedersehen mehr kommen würde, hat ihn zur Verzweiflung gebracht. In der Zeit der Trennung war er sicherlich ratlos. Er musste Ausschau halten, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Seine Sehnsucht nach Versöhnung war unermesslich groß.

Als der Sohn heimkehrt, kann der Vater gar nicht anders, als ihm die Zeichen seiner Liebe und Wertschätzung unmittelbar zu geben. Er zahlt ihm die erlittenen Verletzungen nicht zurück; kein Vorwurf kommt aus seinem Mund. Vielmehr zeigt er dem Sohn, dass dieser aus seiner Liebe niemals herausfallen kann. Das ist das Gottesbild Jesu Christi, das auch uns begleitet und trägt. Mit meinen Schülerinnen und Schülern spreche ich bewusst nicht die Worte: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach…“, sondern „Herr, du schenkst mir Würde…“ Was das bedeutet, sehen wir im heutigen Evangelium. Der Sohn fühlt sich würdelos und der Vater möchte seinem Sohn die Würde zurückschenken. Darum läuft der Vater ihm entgegen, umarmt und küsst ihn. Er gibt ihm Sandalen, einen Ring und lässt das Mastkalb schlachten. Das alles sind Zeichen der Wertschätzung, die dem verlorenen Sohn seine Würde zurückgeben sollen. Wie dankbar wird der jüngere Sohn für diese bedingungslose Liebe sein!
Der ältere Sohn hingegen reagiert erbost und unzufrieden. Er ist ein ‚Moralapostel‘, der weiß, wie man zu leben hat, und der andere nach seinen moralischen Maßstäben beurteilt. Einen Vagabunden so zu beschenken, ist in seinen Augen nicht angemessen. „Der da“ – so spricht er von seinem Bruder, der für ihn kein Bruder mehr ist. „Dein Sohn“ – so sagt er, weil er mit ihm nichts mehr zu tun haben möchte. Er fühlt sich um seine Rolle betrogen.
Der jüngere Sohn hat sich nicht so verhalten, wie sein älterer Bruder es für richtig hält und wie die moralischen Prinzipien es ihm gemäß fordern. Daher begegnet er ihm mit erbarmungsloser Härte. Das ist nicht nur in der Gesellschaft, sondern leider auch in so manchen Situationen und Entscheidungen bei Amtsträgern innerhalb der Kirche zu beobachten. Man begegnet den Menschen zu oft mit Moral und zu selten mit Liebe. Diese Härte des Herzens ist aber die größte Entfernung, die wir zu Gott einnehmen können. Der Weg zu Gott führt nur über die Liebe.

Der Vater hingegen besitzt diese Barmherzigkeit. Er weiß aber gleichzeitig, dass Versöhnung nur dann gelingt, wenn auch der ältere Sohn dazu bereit ist. Wäre dieser weiterhin hartherzig und unwillig, zusammen mit seinem Bruder in Frieden zu leben, hätte das Folgen für die gesamte Familie. Wie aber lässt sich ein Mensch verändern? Wie lässt sich sein Herz öffnen? Vielleicht wäre ein erster Schritt, ihm deutlich zu machen, dass wir alle Fehler machen, dass also auch er ein begrenzter Mensch ist, dass es Brüche in seinem Leben gibt, dass auch er auf die Barmherzigkeit anderer angewiesen ist und vielleicht schon war. Ob der ältere Sohn versöhnlich wird, lässt der Evangelist Lukas offen. Das bleibt als Anfrage an uns. Wir sind nicht nur Wohltäter, sondern auch Übeltäter, stellte Franz Kamphaus einmal heraus. In unserem Herzen ist nicht nur Licht, sondern auch Schatten. Wenn wir das als Menschen annehmen können, entsteht vielleicht eine höhere Wertschätzung für den anderen – vor allem für denjenigen, der Fehler gemacht hat.

Fjodor M. Dostojewski (1821-1881) hat seine Frau auf dem Sterbebett gebeten, die Bibel aufzuschlagen und ihm und den Kindern das 15. Kapitel des Lukasevangeliums vorzulesen. Nachdem er mit geschlossenen Augen und in Nachdenken versunken zugehört hatte, habe er gesagt: „Meine Kinder, vergesst nie, was ihr eben gehört habt… Habet unbedingtes Vertrauen auf Gott und verzweifelt niemals an seiner Verzeihung.“ Welch bedeutendes Wort dieses großen Schriftstellers! Wenn ein Mensch weiß, dass Gottes Liebe ihn erfüllt – auch wenn er Fehler macht –, wird sein Herz größer und weiter. Wenn wir uns im Gottesdienst für die Liebe Gottes öffnen, dann dürfen wir, wenn wir aus der Kirche hinaus- und in die Welt hineingehen, nachspüren, ob unser Herz dadurch größer geworden ist.

Prägungen aus der Kindheit

4. Fastensonntag

Lk 15,11-32

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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