Schaut man zu den Anfängen der christlichen Religion zurück, so lassen sich die Christen als das „wandernde Gottesvolk“ beschreiben. Sie waren eine „kleine Herde“, die sich auf dem Weg befunden hat, den Jesus Christus vorausgegangen ist. Das Christentum lässt sich also auf eine einzige Person zurückführen.

Jesus von Nazareth war ein Mensch, der ganz aus der Liebe Gottes heraus gelebt hat. Er war selbst Wanderprediger, der von Dorf zu Dorf gezogen ist, um den Menschen unterwegs von dieser Liebe zu berichten. Er trug diese Liebe stets in seinem Gepäck mit sich. Es war sein Anliegen, jedem Menschen deutlich zu machen, dass die Liebe Gottes sich unter den Menschen befindet – zu jeder Zeit, hier und heute. Sie ist sein Geschenk, aus dem sich wahrhaft leben lässt. Jesus hat den Menschen vorgelebt, wie man sich für diese Liebe öffnet, wie man sie in sich aufnimmt und weitergibt. Zeit der Stille, Zeit des Rückzugs, Zeit des Innehaltens ist dabei unerlässlich.

Das Christentum fing um Jesus von Nazareth somit ganz klein an, war aber voller Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Nach und nach sind Menschen ihm gefolgt und dieses Kleine wurde langsam größer. Die Gruppe um Jesus war zu den Menschen unterwegs und hat nicht auf sie gewartet. Der Auftrag Jesu lautete, für die Menschen da zu sein. Die Armen und Schwachen waren besonders angesprochen. All jene, für die sich sonst keiner interessiert hat, wollte Jesus stark machen – stark im Glauben, stark in der Hoffnung und stark in der Liebe. Je mehr Liebe ein Mensch in sein Herz aufgenommen hat, desto freigiebiger kann er sie unter den anderen verteilen. Das war Jesus ins eigene Herz geschrieben.

Zu Anfang konzentrierte sich die kleine Herde auf das Gebiet um den See Genezareth herum. Schließlich entschied sich Jesus aber dafür, nach Jerusalem zu ziehen, um seine Botschaft der Liebe in die Welt zu tragen. Hierbei wendete er niemals Gewalt an, sondern predigte, dass gerade die Sanftmütigen und Gewaltlosen selig sind. Ihnen gehöre das Himmelreich. Den römischen Machthabern und auch den obersten Priestern im Judentum stand Jesus mit dieser Position im Weg. Sie hat sich aber auch nach seiner Kreuzigung erhalten und gerade die Schwachen haben in dieser Botschaft der Liebe Zuflucht gesucht. Die Herde vergrößerte sich in dieser Folge weiter. Paulus hat auf seinen Missionsreisen durch die Länder am Mittelmeer viele christliche Gemeinden gegründet. Auch er ging, wie bereits Jesus, zu den Menschen hin und weitete den Kreis derjenigen, die von der Botschaft der Liebe im Herzen getroffen waren, stetig aus. Er hielt diese Gemeinden durch regelmäßige Besuche und Briefe am Leben, versuchte, Probleme in diesen Gemeinden zu lösen. Auch Erfahrungen der Freude verbreitete er, um die Gemeinden zum Weitermachen zu motivieren. Es bildeten sich mit der Zeit erste Strukturen heraus, die das Miteinander in Liebe regeln sollten.

Die große Katastrophe kam für das Christentum im 4. Jh. n. Chr. mit der Konstantinischen Wende. Kaiser Konstantin stellte die christliche Religion mit anderen Religionen in seinem Reich gleich – später wurde sie sogar zur Staatsreligion. Ein Reich unter einem Herrscher mit einem Glauben war die Devise. Eine Gemeinschaft, die den Schwachen dienend und liebend zugeneigt war, trat nun in eine Machtposition ein. Die Liebe zur Macht verdrängte die Macht der Liebe und eine Kirche der Verfolgten wandelte sich hin zu einer Kirche der Verfolger. Von da an hat sich das Christentum über Karl dem Großen bis hin zu Napoleon immer wieder mit den Mächtigen des Staates verbündet, um die eigene Religion mit mehr Macht auszustatten. Kritikern wurde mit Gewalt begegnet, die Macht etablierte eine strenge Moral, der es zu folgen galt – und die Liebe, die im Ursprung dieser „kleinen Herde“ Wesen und Zentrum der Botschaft Jesu war, geriet dabei immer weiter in den Hintergrund. Nicht mehr die Schwachen, sondern die Mächtigen standen im Fokus. Die „kleine Herde“ hat ihren Auftrag in dem Moment aus den Augen verloren, als der Kaiser und die Gesellschaft sie mit Macht ausgestattet hatten.

Heute wandern die Menschen aus dieser Herde aus. Die Kirche in West-Europa wird von Tag zu Tag kleiner. In Deutschland gehören mittlerweile weniger als  50 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Konfession an. Manche sagen sogar, dass die Kirche auf ihr Ende zugeht und eine kleine sektenähnliche Gruppe zurückbleiben wird. Die Obrigen in der Kirche erklären dies damit, dass die Menschen den Glauben verloren haben. Kann man aber eine Sehnsucht verlieren, die zutiefst im menschlichen Wesen verankert ist? Kann man die Sehnsucht nach Ewigkeit, nach einem Leben nach dem Tod verlieren? Ist die Botschaft der Liebe, des Glaubens, der Hoffnung, der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die Jesus in die Welt gebracht hat, irrelevant geworden?

Ich beobachte, dass die Liebe die größte Sehnsucht des Menschen ist – auch wenn er sie oft verrät. Diese Sehnsucht wird den Menschen immer prägen. Die hohen Austrittszahlen kann ich mir daher nur damit erklären, dass die Menschen erkennen, dass die Institution Kirche dieser Sehnsucht keinen Raum mehr gibt und an vielen Stellen im genauen Gegensatz zum Kern der jesuanischen Botschaft handelt. Die Gewalt, zu der sie in Vergangenheit und Gegenwart gegriffen hat und greift, um ihre Vorrangstellung in der Gesellschaft zu erhalten, führt zurzeit zu großen Erschütterungen selbst unter den treusten Gläubigen. Sie fordern Veränderungen, weil die Kirche diesen Stil nicht mehr weiterführen darf. Das Ausmaß an Austrittszahlen wird die Kirche in jedem Fall von außen verändern. Aber wie sieht es mit inneren Veränderungen aus?

Unter den kritischen Geistern in der Kirche entstehen neue Gruppierungen, wie Maria 2.0, wie einige holländische Gemeinden, die sich vom Bischof unabhängig gemacht haben. Auch Stephanus 2.0 geht in unterschiedlichen Bereichen selbständige Wege. Diese Gruppierungen wagen Neues, versuchen, der Kirche eine neue Richtung zu geben und sich auf die Liebe zurückzubesinnen. Leider werden diese Menschen von der Institution zurückgedrängt. Die Anliegen von Gemeinden werden nicht berücksichtigt. Gemeinden werden zu Pfarreien und Pfarreien zu immer größeren Einheiten zusammengefasst, auch wenn die Menschen immer wieder sagen, dass sie eine kleine, vertraute Herde bleiben möchten, dass sie ihren Glauben in ihrer Gemeinschaft leben und teilen möchten. Priestern wird dadurch die Gelegenheit genommen, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, auch wenn sie sich danach sehnen.

Wenn ich mich an meine Zeit in der Gemeinde St. Stephanus zurückerinnere, so kommt mir sofort in den Sinn, wie ich jeden Morgen eine halbe Stunde vor Schulbeginn mit dem Fahrrad zur Friedensschule aufgebrochen bin, um auf dem Weg mit den Menschen zu reden. Ich hatte die „kleine Herde“ im Blick, mit der ich gelebt habe und leben wollte: nicht nur in der Liturgie, sondern quasi auf der Straße, denn auch dort findet das christliche Leben statt. Die Menschen waren mir vertraut. Es gab kaum eine Beerdigung, bei der mir die Verstorbenen oder Hinterbliebenen fremd war. Wenn ich eine Trauerfamilie mal nicht so gut kannte, so waren mir doch zumindest die Nachbarn vertraut.

Die Kirchenleitung sieht und bestätigt das Schrumpfen der Kirche. Sie weiß, dass die Entwicklung darauf hinauslaufen wird, dass nur noch ein kleiner Teil in der Kirche bleiben wird. Aber statt die Anliegen der kritischen Gläubigen nun ernst zu nehmen und notwendige Veränderungen zügig umzusetzen, höre ich von Stimmen aus der Kirchenleitung, dass derjenige Teil, der schließlich noch in der Kirche sein wird, der „Heilige Rest“ ist. Damit schließt die Kirchenleitung sich selbst in diesen „Heiligen Rest“ ein.

Das ist eine fatale Sichtweise, da sie die Kritik, die von außen kommt, an sich abprallen lässt, die eigene Schuld verdrängt und Veränderungen ausschließt. Brauchen wir aber nicht Auseinandersetzungen mit kritischen Stimmen, um Wahrheiten zu finden? Nimmt sich die Kirchenleitung die Möglichkeit der Wahrheitsfindung aber nicht, wenn sie gegen kritische Stimmen kämpft und auf dem Standpunkt verharrt, dass diese Menschen nicht so wichtig sind – weil am Ende der „Heilige Rest“ übrig bleiben wird?

Kein Mensch hat die absolute Wahrheit. Wahrheiten werden wir nur finden, wenn die Stimmen der kritischen Gläubigen als relevant angesehen werden und wir miteinander in den Dialog treten. Wir müssen uns zusammen mit den Fragen des Lebens und des Glaubens auseinandersetzen. Das muss nicht nur ein Gespräch auf Augenhöhe, sondern auch auf Herzenshöhe sein. Selbst wenn ein Mensch eine andere Meinung hat, müssen wir, muss die Kirchenleitung, ihm liebevoll und wertschätzend begegnen.

Die anfänglich „kleine Herde“ ist im Laufe der Zeit zu einer „großen Herde“ geworden. Jesus hat sich eine große Herde gewünscht, aber keine mächtige Herde. Er wollte eine Herde, die im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe zusammenlebt. Auftrag der Kirche sollte sein, die Liebe der Menschen zusammenzuführen und ihnen die Möglichkeit zu geben, mit der je eigenen Persönlichkeit und dem eigenen Standpunkt in einer Glaubensgemeinschaft zu leben und sie mitzuprägen. Wer sagt, es reiche, wenn eine kleine Herde übrig bleibt, und das sei dann der „Heilige Rest“, verrät das Ansinnen Jesu. Jede Glaubensgemeinschaft muss sich immer wieder infrage stellen – sei es die Kirchenleitung, sei es der kritische Gläubige. Jesus hat alle Menschen eingeladen, die Botschaft der Liebe ins eigene Herz zu lassen. Er wollte all jene, die müde und beladen sind, stärken. Er hat sich mit Zöllnern und „Sündern“ umgeben, um ihre Herzen zu öffnen. Er hat jene aufgenommen, für die sich keiner in der Gesellschaft interessiert hat. Ganz sicher wollte er keine Kirche, die aus dem „Heiligen Rest“ besteht.

Der Theologe Karl Rahner hat diese Gedanken bereits vor 50 Jahren in wunderbarer Weise formuliert: „Wenn man in einem bequemen Traditionalismus und einer langweiligen Pseudoorthodoxie, die sich vor der Mentalität des heutigen Menschen und der modernen Gesellschaft fürchten, sich auf die ‚kleine Herde‘ beruft, wenn man uneingestanden gar nichts dagegen hat, dass die unruhig fragenden Menschen aus der Kirche auswandern, weil dann wieder Ruhe und Ordnung einziehen können und alles in der Kirche wieder so wie früher wird, propagiert man nicht die Haltung, die der kleinen Herde Christi konform ist, sondern eine kleinhäuslerische Sektenmentalität“.

Ich wünsche uns, dass wir als „kleine Herde“ Jesu Christi immer wieder aufstehen, wenn die Liebe verraten wird. Jesus hat uns diese Liebe in unsere Herzen gelegt und wir dürfen seiner Wahrheit mutig folgen. „Fürchtet euch nicht“, hat er uns gesagt. Wir dürfen uns aus Angst vor Autoritäten nicht klein machen lassen. Gott hat uns seine Schöpfung anvertraut und seine Liebe in unser Herz gelegt. Mögen wir mit Gottes Liebe im Gepäck die Menschen stärken und aufrichten und gemeinsam den Glauben leben und feiern.

„Die kleine Herde“

19. Sonntag im Jahreskreis

Lk 12,32-48

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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