Kennen Sie Situationen, die zum Reißen gespannt sind? Man kommt in einen Raum hinein und spürt sogleich, wie es knistert. Man steht vielleicht vor einer schweren Entscheidung, ist unsicher über die Konsequenzen und fühlt darum eine Angst in sich aufkommen. Es herrscht ein Klima, das nicht gut tut, und der eine oder andere denkt: Nichts wie weg hier! Oder: Wie kann ich hier herauskommen? So stelle ich mir die Situation im heutigen Evangelium vor.

Als Johannes sein Evangelium schreibt, liegt der Kreuzestod Jesu bereits ungefähr 60 Jahre zurück. Die Gemeinden, die sich um seine Botschaft gebildet hatten, sind mittlerweile wieder kleiner geworden. Menschen verlassen sie, da sich die Naherwartung nicht erfüllt hat. Jesus hatte angekündigt, noch zu Lebzeiten der Jünger wiederzukommen, den Menschen seine Liebe zu schenken und volle Gottesherrschaft zu bringen. Dies hat sich nicht erfüllt, so dass Enttäuschte nicht mehr an der christlichen Botschaft festhielten und eigene Wege gingen.

Dieser Wegbruch hat den Evangelisten augenscheinlich beschäftigt. Daher baut er das Motiv des Weggehens in das heutige Evangelium ein. Auch Jesus wird damit konfrontiert, dass Menschen ihn verlassen. Viele seiner Jünger gehen. So fragt er seine Zwölf besorgt: „Wollt auch ihr weggehen?“ (Joh, 6,68). Die Bewegung um Jesus herum steht auf Messers Schneide. Hätten die Zwölf die Frage Jesu bejaht, wären die Evangelien wahrscheinlich niemals entstanden. Wenn man wissen möchte, warum solch eine große Anzahl an Jüngern den Kreis verlässt, muss man einige Verse zurück gehen. Dort sagt Jesus Ungeheuerliches: „Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben“ (Joh 6,53f). Stellen Sie sich vor, wie gläubige Juden – und das waren die Jünger – auf  solch eine Aussage reagieren. Kommt man im Judentum mit Blut in Berührung, so ist man verunreinigt. Jesu Worte müssen also unerträglich wirken.

Dieses Problem entsteht, wenn man ‚Fleisch‘ und ‚Blut‘ materiell versteht, also auf ihre Materie reduziert. Johannes möchte die Menschen mit diesen Gedanken aber in eine Innerlichkeit holen. Wer diese Worte hört, soll auf eine geistliche Ebene treten. Das fällt vielen nicht leicht, weil sie umdenken müssen. Sie müssen sich für das Mystische öffnen. Karl Rahner sagt: „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein“. Den Glauben lebt man also am tiefsten, wenn man persönliche und ganz unmittelbare Erfahrungen macht, die nicht durch Äußeres verstellt werden. Diese Erfahrungen sind innerlich. Wenn Jesus den Jüngern erklärt, dass sie sein Fleisch essen und sein Blut trinken sollen, um das ewige Leben zu gewinnen, dann möchte er ihnen keinen Ritus lehren, sondern sie in ihrem Inneren berühren. Die Jünger sollen erleben, dass das Blut ein Bild für die Lebendigkeit, für die Lebenskraft ist und dass dieser geistliche Sinn das ist, was sie wirklich im Leben stärkt. Sie sehen nur Brot und Wein, doch sie empfangen durch die Wandlung des Brotes und des Weines die Lebenskraft Jesu, die er ihnen durch seine Liebe schenkt, damit auch wir zu liebenden Menschen verwandelt werden. In diese mystische Dimension müssen die Jünger, müssen die Gemeinden hineinwachsen.

Jahr für Jahr ist es mein Anliegen, den Schülerinnen und Schülern an der Friedensschule gerade dieses mystische Verständnis, ja noch viel mehr, ein mystisches Erleben zu eröffnen: Ihr empfangt nicht einfach Brot und Wein, sondern etwas Inneres, etwas Geheimnisvolles und Kostbares, das ihr nur mit eurem Herzen spüren könnt. Die Musik hilft mir dabei, weil sie den Menschen nie rational trifft, sondern ihn ebenso auf der Ebene des Herzens berührt. „Seht, Brot und Wein, Früchte der Erde, wie Gott sie gibt.

Tauben und Ähren, die uns ernähren, kostbare Zeichen, dass Gott uns liebt, kostbare Zeichen, dass Gott uns liebt“ – so heißt es in einem Lied, das den Schülern zeigt, wie Gott sie mit seinen Gaben lebendig hält.

Ich erhoffe mir, dass die Schülerinnen und Schüler sich mit der Liebe Jesu identifizieren. Erst wenn sie diese Liebe empfangen haben, können sie sie auch nach außen zu den Menschen tragen. Dasselbe gilt für die Jünger. Natürlich gelingt dies nicht von heute auf morgen. Vielmehr handelt es sich um einen Weg in die Tiefe hinein. Das mystische Erfassen ist immer eine Vertiefung des Verständnisses und des Erlebens der Wirklichkeit, dem der Mensch sich öffnen muss. Was dann an Erleben in ihn hineinkommt und groß wird, ist Gnade und Geschenk. Wer das Mystische von vornherein ablehnt und sich diesem Erleben nicht öffnet, der kann das Geschenk natürlich auch nicht empfangen.

Petrus ist ein Bild für einen Menschen mit großer Innerlichkeit. Im Evangelium antwortet er auf die Frage Jesu, ob auch sie, die Zwölf, weggehen möchten: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh, 6,68). Für mich ist es eines der tiefsinnigsten, wunderbarsten Worte in der Heiligen Schrift. Die Zwölf sind wahrhaftige Nachfolger Jesu im Herzen. Das erinnert mich an einen Gedanken von Franz Kamphaus: Jesus braucht keine Fans, sondern Nachfolger, die in seinen Spuren gehen, also Menschen, die die Tiefe der Bedeutung der christlichen Botschaft und der göttlichen Gaben in ihrem Herzen durchs Leben tragen und davon erzählen. Die Zwölf können gar nicht anders, als bei Jesus zu bleiben. Petrus weiß, dass es nur ein Wort gibt, das durch seine Liebe Leben bedeutet. Er und die anderen Jünger sehnen sich nach diesem Wort, weil sie sich nach der Ewigkeit der göttlichen Liebe sehnen. Jesus bringt ihnen den Himmel, schenkt ihnen Worte, die ihnen etwas aus dem Irdischen heraushelfen. Durch die Botschaft Jesu, die Liebe ist, wird ihre Begrenztheit in Unbegrenztheit verwandelt. Jeder Mensch trägt diese Sehnsucht nach dem Unbegrenzten in sich. Wir wünschen uns, dass die Liebe, die uns geschenkt wird, niemals abbricht. Wenn wir diese unbegrenzte und ewige Liebe in unserem Inneren erleben, müssen wir genau da bleiben – bei Gott bleiben.

 

Gorch Fock hat einmal gesagt: „Du kannst dein Leben nicht verlängern noch verbreitern, nur vertiefen“. Versuchen Sie immer, nicht nur ein rationaler, sondern auch ein geistlicher Mensch zu sein. Die Wirklichkeit hat eine Tiefendimension. Versuchen Sie, diese himmlische Dimension, die Christus der Welt gegeben hat, wahrzunehmen und das Leben aus dieser Perspektive zu erleben. Lassen Sie den Himmel in Ihr Herz. Dann werden Sie spüren, dass Sie sich genau danach sehnen.

Gehen oder Bleiben

21. Sonntag im Jahreskreis
Joh 6,60-69

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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