Predigtreihe in den Advents- und Weihnachtstagen – „Wertschätzung“

Der Mensch ist ein begrenztes Wesen. Seine Grenzen zeigen sich im Denken, im Fühlen und im Miteinander. Auch im Falle der Wertschätzung, sei es gegenüber der Schöpfung oder gegenüber anderen Menschen, stößt er immer wieder an seine Grenzen. Das wird vor allem vor dem Hintergrund der bedingungslosen Wertschätzung Gottes deutlich. Jeder Mensch ist Gottes Abbild und ist ihm daher ähnlich – um es in alttestamentlichen Worten auszudrücken. Egal, was ein Mensch tut, egal, was in seinem Leben passiert, er ist und bleibt daher Gottes geliebtes Kind und wird aus dieser Liebe niemals herausfallen. So wird Gottes Wertschätzung für den Menschen sichtbar. Aus menschlicher Sicht ist dies etwas Ungeheuerliches.

Auf der anderen Seite passt die Wertschätzung Gottes genau zu der Sehnsucht, die sich im Menschen findet. Denn es ist die tiefe Sehnsucht eines jeden, trotz der eigenen Grenzen stets in der göttlichen Liebe zu bleiben. Auf der anderen Seite erhofft der Mensch sich, von anderen Menschen angenommen zu werden – mit seinen positiven und seinen negativen Seiten. Wie sehr braucht er Austausch und lebendige Kommunikation, Unterstützung und Hilfe. Wie sehr sehnt er sich danach, geliebt zu werden und Menschen an seiner Seite zu haben, die ihn in schweren Zeiten unterstützen. Wie sehr benötigt er immer wieder Wertschätzung für das Leben.

 

Es stellt sich die Frage, warum etwas, was jeder Mensch braucht, sehr oft nicht gelingt und erfüllt wird. Die Sehnsucht nach Wertschätzung bleibt unerfüllt, weil Menschen Grenzen haben und nicht in göttlicher Weise auf den anderen schauen und gemäß seiner Sehnsucht wirken können. Worin liegen die konkreten Gründe, dass es dem Menschen oftmals schwer fällt, den anderen wertzuschätzen?

Wer von einem Menschen enttäuscht ist, beispielsweise weil trotz aller Bemühungen und Ermutigungen niemals etwas zurückkommt, weil er alles für selbstverständlich nimmt, weil die Bemühungen gar nicht bei ihm anzukommen scheinen, dem fällt es schwer, Wertschätzung auszusprechen. Sie wird zu einer großen Herausforderung. In anderen Fällen spürt man Vorbehalte vom anderen gegen die eigene Person, spürt, dass dieser Mensch nur auf die negativen Seiten schaut und demgemäß reagiert. Auch das schafft Enttäuschung und behindert eine wertschätzende Sicht. Verstärkt wird das Problem, wenn der andere immer in Angriffshaltung ist und Auseinandersetzungen sucht.

Ein zweiter Grund für das Misslingen der Wertschätzung ist in der Angst zu finden. Wer sich selbst klein fühlt, nimmt den anderen als größer wahr. Diese Einstellung macht es schwer, Wertschätzung gegenüber dem anderen auszusprechen. An dieser Stelle zeigt sich wieder, wie wichtig es jedem Menschen ist, gesehen und angenommen und mit den eigenen guten Seiten wahrgenommen zu werden. Ist dieses der Fall, fällt Wertschätzung leichter.

Menschen, die immer unter Stress stehen, finden in sich kaum eine Möglichkeit, andere und anderes wertzuschätzen. Denn je mehr Stress sie haben, desto mehr kreisen sie auch um sich selbst und die eigenen Angelegenheiten. Wenn dieser Stress abgebaut wird und diese Menschen aus dem eigenen Kreis herauskommen, kann es wieder gelingen, den Blick auf den anderen zu richten. Dann entsteht Platz für den anderen; dann kann der Blick ein wertschätzender werden.

Viertens braucht es eine gute Streitkultur, damit Menschen einander wertschätzend begegnen können. Konflikte wirken oftmals zerstörerisch und Menschen gehen auseinander. Ursache hierfür ist, dass sie zu wenig differenzieren und das Gute und Liebevolle im anderen aus den Augen verlieren. Sie sehen nur noch den Streitpunkt. Stattdessen gilt es, Unterschiede zuzulassen und sich dabei bewusst zu sein, dass Begegnungen trotzdem verantwortungsvoll und wertschätzend verlaufen können. Es ist durchaus möglich, dass Menschen einander nach einem Streit die Hand geben oder sich in den Arm nehmen. Natürlich ist das eine Herausforderung – und darum stoßen Menschen hier sehr oft an ihre Grenzen. Wertschätzung ist eine lebenslange Übung.

Eine weitere Ursache für die Grenzen der Wertschätzung ist darin zu finden, dass es Menschen mit einem Charakter gibt, der Wertschätzung schwer macht. Das kann auf der einen Seite daran liegen, dass deren Charakter nicht so gut zum eigenen Charakter passt. Darüber muss man sich bewusst sein, weil es zu einem ehrlichen und wahrhaftigen Leben gehört, sich das einzugestehen. Auf der anderen Seite fällt es bei egoistischen, gleichgültigen oder harten Menschen an sich schwer, ihnen wertschätzend zu begegnen. Wer egoistisch seinen Weg geht, macht es einem schwer, zu einer herzlichen Begegnung zu finden. Denn wer vom Herzen her weich ist, tut sich schwer damit, ein hartes Herz wertzuschätzen. Wir sind nicht Gott, sondern begrenzte Menschen und müssen uns das immer wieder bewusst machen.

Eine Pädagogik der Härte findet sich seit jeher in der Gesellschaft und begründet sicherlich, dass harte Charaktere herangezogen werden. Die Empfehlung „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“ ist aus dem biblischen Buch der Sprüche abgeleitet (vgl. Spr 13,24) und hat Lehrer und Eltern über Jahrzehnte in ihrem harten Umgang mit Kindern gerechtfertigt. Natürlich brauchen Kinder und alle Menschen Grenzen, aber vor allem brauchen sie einen wahrhaftigen und liebevollen Umgang. Ich erinnere mich an die Worte eines Lehrers, der einmal sagte: „Wenn ich einem Schüler eine Fünf gegeben habe, bin ich seinen Weg in besonders liebevoller Weise mit ihm gegangen. Wir haben zusammen über Möglichkeiten der Veränderung nachgedacht und ich habe ihm meine Nähe und meine Hilfe angeboten.“ Ein weiches Herz ist entscheidend dafür, dass Leben entsteht.

Eine letzte Frage in diesem Zusammenhang ist, warum die Kirche so wenig Wertschätzung genießt. Wer während der Corona-Pandemie erkennen musste, dass die Kirchen sich sehr wenig um die Menschen gekümmert haben, dem ist sicherlich der Gedanke gekommen, dass etwas grundlegend falsch läuft. In der Kirche wird zu viel strukturiert und organisiert, während wirkliche Seelsorge auf der Strecke bleibt. An dieser Stelle passt die Einsicht des früheren französischen Bischofs Jacques Gaillot: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“. Wenn die Kirche sich nach Wertschätzung sehnt, sollte sie hier ansetzen. Noch viel schlimmer wirkt allerdings der Missbrauch auf unser Bild von Kirche. Wer immer wieder neu – wie z. B. in der aktuellen Berichterstattung des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ – darüber liest, wie Missbrauchsfälle vertuscht worden sind und immer noch nicht richtig aufgearbeitet werden, wer wieder erkennen muss, dass ein gegenwärtiger Bischof als Verantwortlicher für diese Vertuschungen fungierte, dem fällt es schwer, mit offenem Herzen an die Worte zu glauben, die aus den Mündern von Repräsentanten dieser Kirche kommen. Für die Kirche sind diese unzähligen vertuschten Missbrauchsfälle ein Sturz ins Bodenlose. Einer solchen Institution Wertschätzung zu schenken, wäre vor diesem Hintergrund nicht wahrhaftig.

Dagegen möchte ich Ihnen nun das Bild des heutigen Evangeliums setzen. Die Begegnung von Maria und Elisabeth ist ein Paradebeispiel gelungener Wertschätzung. Bei Elisabeth wächst diese Wertschätzung, weil sie sich in die Fragen und das Leben von Maria einfühlt. Sie nimmt wahr, warum Maria über das Bergland von Judäa gekommen ist. Auf dieser Grundlage entsteht eine tiefe Beziehung des Vertrauens, in der Maria Halt in ihrer Haltlosigkeit findet. Gott wird erfahrbar, wenn Menschen einander in Liebe begegnen, wenn sie in ihren Gedanken nicht bei der eigenen Person sind, sondern beim anderen. Maria erfährt diese Gottesliebe in einer solchen Stärke, dass sie sie nicht einmal aussprechen kann, sondern im Magnifikat voller Freude, Begeisterung und Dankbarkeit besingt.

An dieser Stelle ist entscheidend, welches Gottesbild Maria hat. Das Magnifikat beginnt mit den Worten: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“. Maria ist sich daher gewiss, dass Jesus Christus in die Welt kommt und sie auf den Kopf stellen wird. Franz Kamphaus drückt es etwas präziser aus: Christus stellt die Welt wieder auf die Füße, weil die Menschen sie auf den Kopf gestellt haben, weil sie das Lebensnotwendige oftmals mit Füßen getreten haben. Maria kann diese Gewissheit gesanglich trotz der Herausforderung der eigenen Situation ausdrücken, weil Elisabeth ihr wertschätzend zugeneigt ist. Es gibt Situationen, in denen einem Menschen der Kloß im Hals stecken bleibt und er keinen einzigen Ton mehr herausbekommen kann. In einem Chor sind solche Stimmen froh, dass rechts und links von ihnen Stimmen singen, an die sie sich anschließen können. Wenn das eigene Vertrauen wackelt, braucht es diese Stimmen, die man um Unterstützung bitten kann und die einen mitziehen. Von Rabindranath Tagore gibt es einen wunderbaren Gedanken: „Glaube ist wie der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist“.

Nehmen Sie bei allen Grenzen menschlicher Wertschätzung die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth in Ihrem Herzen mit. Sie zeigt, dass eine Beziehung, die von gelungener Wertschätzung geprägt ist, Kraft und Vertrauen in unsicheren Zeiten schenken kann. Beachten Sie dabei immer, dass es uns als Menschen niemals gelingen wird, einander stets wertschätzend zu begegnen. Wir müssen einander auch immer wieder respektvoll kritisieren. Aber am Ende zählt, dass wir dem anderen entweder die Hand reichen oder ihn sogar in die Arme nehmen.

Grenzen der Wertschätzung

4. Advent

Lk 1,39-45

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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