Sprache gehört zum Menschsein fundamental dazu. Menschen kommunizieren auf ganz verschiedene Weisen miteinander – mit Worten und dem Tonfall der eigenen Stimme, mit der Mimik des Gesichtes oder auch mit Zeichen und Gebärden. Dadurch gehen sie Beziehungen miteinander ein, verständigen sich nicht nur über diese, sondern auch über das Leben und die Welt insgesamt. Zwar sind Mimik und Gestik in der Lage, viel auszusagen, doch die Komplexität von Beziehungen und der Welt ist besser durch die Sprache der Worte beschreibbar. Die Welt des Menschen ist insgesamt durch diese Sprache geprägt. Nicht sprechen zu können, ist daher ein großes Handicap. Es erschwert die Möglichkeit der Kontaktaufnahme und damit des Eingehens von Beziehungen. Plötzlich die Sprache zu verlieren, wie es einer mir bekannten, vorher sehr sprachgewandten Frau durch einen Schlaganfall widerfahren ist, ist ein gravierender Lebenseinschnitt. Not und Traurigkeit sind die Folge.

Ich erinnere mich an eine brutale Geschichte, die sich 1970 in Amerika ereignet hat. Ein psychotischer Mann hat seine 13 Monate alte Tochter Genie in eine Kammer gesperrt. Dies wurde erst entdeckt, als das Mädchen 14 Jahre alt war. Es war körperlich und seelisch zutiefst verletzt. Nach sieben Jahren konzentrierter Therapie, hat Genie plötzlich begonnen, ein Bild zu malen. Auf dem Bild war eine Frau zu erkennen mit einem Arm und einer großen Hand, die mit „Mamas Hand“ beschrieben war. Im Arm lag ein puppenähnliches Wesen als Darstellung des Mädchens selbst. Unter das Bild hatte sie die Worte: „Ich vermisse Mama“ geschrieben. Diese Erfahrung macht deutlich, dass der Mensch andere liebende Menschen und deren Berührungen braucht, um sprechen (lernen) zu können. Erst dadurch kann er sein Menschsein entfalten. Genie hatte aber keinen Menschen zur Seite und ist daher nicht nur sprachlich, sondern gleichzeitig in ihrer menschlichen Entwicklung verkümmert. Ihr Menschsein ist ihr in gewissem Sinn verloren gegangen. Das Wesentliche für dieses Menschsein, für die menschliche Entwicklung und Reifung wurde im Keim erstickt. Ohne liebende Menschen lernt man nicht zu sprechen – nicht sprechen zu können, zieht einen aus der Kommunikation mit den Menschen heraus, nimmt einem die Möglichkeit, sich mitzuteilen, und zeugt in der Folge die Angst vor Isolierung und Einsamkeit.

Selbst wenn wir sprechen können, bleibt die Frage, wie wir miteinander kommunizieren. Das heutige Evangelium zeigt, dass Sprache ein hohes Gut ist. Aber wie gehen wir mit ihr um? Wir bleiben mit unserer Sprache an der Oberfläche – beispielsweise wenn wir sagen: ‚Der ist ganz nett‘. Das tun wir gern, wenn es im Grunde um nichts geht. Erst in tiefgreifenden Auseinandersetzungen merken wir später, dass er in Wahrheit gar nicht so nett ist. Zusammen mit der Sprache sind wir also gleichzeitig auch mit der eigenen Aufmerksamkeit an der Oberfläche geblieben. Sprache kann emotional oder nüchtern sein. Wenn man jemanden liebt, sind nüchterne Worte zu wenig und nicht wahrhaftig. Sprache sollte aber ehrlich und wahrhaftig sein. Jesus sagt, dass das, was wir sagen, mit Wahrheit gefüllt sein sollte. „Die Wahrheit verdient es, gesagt zu werden, gleich ob sie störend, lästig oder aufdringlich ist“. Ein wahrhaftiger Mensch steht zu seinem Wort, und wenn er es einmal nicht schafft, zu seinem Wort zu stehen, bekennt er dies und bekennt ggf. auch, warum er anders handeln musste.
Sprache kann zum Segen werden und einen Menschen aufrichten. Überlegen Sie mal, welche Worte Sie diese Woche gestärkt haben. Sprache kann aber auch Zerstörung mit sich bringen. Dies muss man sich nicht nur, aber vor allem in einem Leben aus dem Glauben heraus klar machen. Als Kind habe ich immer wieder mal den Spruch gehört: „Kinder bei Tische sind stumm wie Fische“. Wem immer wieder gesagt wird, dass er nichts zu sagen hat, den Mund halten soll, sich kürzer fassen soll, nicht so einen Unsinn erzählen soll, dass er immer dieselben Gedanken wiederholt, dass ihn keiner ernst nimmt, der wird klein gemacht und verunsichert. In der Folge wird dieser Mensch ängstlich und verliert den Mut. Sein Selbstvertrauen wird erschüttert. Gerade um ehrlich zu sein, braucht es aber viel Mut. Viele Menschen haben Angst, Unangenehmes auszusprechen. Sie konnten ihre Wahrhaftigkeit nie entwickeln, weil andere sie im Laufe der Entwicklung klein gemacht haben. Jesus ist stets für die Wahrheit eingetreten. Er ist mutig und entschlossen seinen Weg gegangen.

Im heutigen Evangelium zeigt Jesus, was es bedeutet, einen Menschen groß zu machen und ihm Mut zu schenken. Ein Taubstummer wird zu ihm gebracht, weil die Menschen offensichtlich von der Heilkraft Jesu gehört haben und sich in Massen an ihn wandten. Jesus nimmt diesen Taubstummen beiseite, weg von der Masse. Mit anderen Worten: Jesus schenkt ihm persönliche Zuwendung und damit Würde. Er zeichnet ihn aus, zeigt ihm, dass er von Bedeutung ist und nicht als irgendeiner in der Masse auf- oder untergeht. Jesus sagt vielleicht: ‚Komm her zu mir. Ich nehme dich in den Arm‘. Damit setzt er das Fundament für die Art von Seelsorge, die den Einzelnen im Blick hat, ihm in persönlicher Hinwendung Nähe und Geborgenheit schenkt. Denn danach sehnen sich die Menschen.

Ich denke in diesem Zusammenhang daran, wie schwer persönliche Seelsorge in den heutigen Großpfarreien geworden ist. Entstanden sind sie aufgrund des stetig wachsenden Priestermangels. Das Problem ist nur, dass diese Großpfarreien weiteren Priestermangel zur Folge haben. Denn Priestern fällt es immer schwerer, Nähe zu den Menschen in den Gemeinden aufzubauen und Seelsorge so auszuüben, wie Jesus sie im Sinne hatte. Der Biologe und Theologe Ulrich Lüke berichtet daher, dass er an der Universität Aachen viele junge Frauen und Männer kennengelernt hat, die gern Priesterinnen und Priester werden wollten – aber nicht unter den Bedingungen der katholischen Kirche. Zurzeit werden die Eucharistie und die persönliche Seelsorge dort dem System geopfert. „Wir opfern die Eucharistie auf dem Altar des Zölibats“, so formuliert er es. (in: Münster Geschichten, Bilder und Dokumente, September 2021) Dabei macht das heutige Evangelium sehr deutlich, dass Seelsorge mit Nähe verbunden ist, dass sie die Möglichkeit, Zeit und Liebe zu schenken, voraussetzt.

Ein weiterer Grund, warum Jesus den Taubstummen beiseite nimmt, könnte darin liegen, dass er mit einem Glaubensirrtum aufräumen wollte. Viele Menschen waren damals der Meinung, dass es sich bei jeder Art von Leiden um eine Strafe Gottes handeln muss. Der Leidende ist somit selbst schuld an seinem Leiden und kann zurecht von der Gesellschaft verurteilt werden. Die Gesellschaft hat ein Recht, ihn kleinzumachen. Jesus hingegen möchte die Gewissheit säen, dass Gott nicht straft, sondern die Liebe ist. Dadurch nimmt er auch dem Taubstummen den Irrtum, dass eine Schuld auf ihm lastet und stärkt somit sein Selbstvertrauen. Jesus legt dem Taubstummen danach die Finger in die Ohren und berührt seine Zunge. Diese Berührungen deuten an, dass Jesus jeden Menschen annimmt und die Art von Zuwendung schenkt, die ein Mensch braucht. Er nimmt die Menschen gewissermaßen in den Arm. In unendlichem Vertrauen zum Vater und seiner Liebe blickt Jesus dann zum Himmel hinauf und sagt „Effata!“. Der Evangelist hat an dieser Stelle das aramäische Wort gelassen und erst danach die griechische Übersetzung überliefert. Das Wort wird also hervorgehoben und als ureigene Aussage Jesu gekennzeichnet. Der Taubstumme wird aufgefordert, sich zu öffnen. Jesus sieht somit seine Not, spürt die innere Verkrampfung und Belastung, die mit der Unfähigkeit zu sprechen einhergeht – oder davon verursacht wurde. ‚Öffne dich für das Leben und für das Heil, das Gott dir in deinem Unheil schenkt‘, möchte Jesus mit seiner Aufforderung sagen.

Ich wünsche uns, dass wir in unserer Sprache überlegen, welche Worte wir im Umgang mit den Menschen verwenden. Für Jesus war es entscheidend, dass die Menschen in der Wahrheit und in der Liebe bleiben. Auch Paulus hat die Korinther aufgefordert, der Liebe nachzujagen – sie niemals zu vergessen.

„Wenn ich alle Sprachen dieser Welt sprechen könnte…, hätte aber die Liebe nicht…“,

so heißt es in einem wunderschönen Lied, das ich Ihnen gerne ans Herz legen möchte.

Ob in der Alltagssprache oder in der Seelsorge, wahrhaftige Zuwendung sollte immer im Vordergrund stehen. Lassen Sie uns den Blick zum Himmel niemals verlieren, und wir werden spüren und erfahren, dass Gott das Leben mit uns lebt.

Miteinander sprechen

„Effata!“
23. Sonntag im Jahreskreis
Mk 7,31-37

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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