Das letzte Wort der Passion Jesu im Matthäusevangelium lautet: „Wahrlich, wahrlich, das war Gottes Sohn“ (Mt 27,54). Das Erstaunliche daran ist, dass diese Einsicht von einem offiziell Ungläubigen ausgesprochen wird. Der römische Hauptmann, der Jesus bewacht hat, wurde von dem Geschehen derart erschüttert und im Herzen getroffen, dass er sich der Wahrhaftigkeit Jesu gewiss wurde. Hört man in die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach hinein, so fällt auf, wie treffend dieses Wort musikalisch gedeutet und in wunderbaren Melodien beschrieben wird. Wie eine Engelsstimme stellt Bach es nach dem erlittenen Leid und der Not Jesu als Finale heraus. Der Hauptmann, der bis zuletzt unter dem Kreuz stand, schenkt uns sein existentielles Zeugnis: Derjenige, der am Kreuz wie Vieh gequält und geschlachtet wurde, war wahrlich Gottes Sohn.

Die Besonderheit dieser Sohnschaft ist darin zu finden, dass Jesus ganz aus der Liebe des Vaters war und aus ihr heraus gelebt hat. Unser Glaubensbekenntnis bezeugt, dass er Gottes eingeborener Sohn war, gezeugt, nicht geschaffen. Er war eines Wesens mit dem Vater – Gott von Gott, Licht vom Licht. Jesus konnte die Liebe wie kein anderer grenzenlos leben, weil er das Ebenbild Gottes, ihm also gleich war – während wir nur Gottes Abbilder sind. Gottes Wesen ist nichts anderes als Liebe. Christsein bedeutet, diesem Wesen ähnlich zu werden, sich also immer wieder hinter die Liebe Gottes zu stellen.

Was bedeutet Liebe? Wie oft sagen wir, dass wir etwas aus Liebe tun, legen aber unser eigenes Verständnis von Liebe zugrunde? In anderen Übersetzungen des Wortes des Hauptmanns lesen wir: „Dieser war ein Mensch voller Wahrheit“. Die Wahrheit Gottes ist Liebe. Wer sein Leben in Liebe lebt, lebt die Wahrheit seines Wesens, erfüllt, was das eigene Wesen ist. Er lebt den göttlichen Weg, der Leben schenkt und zum Leben führt. Diese Liebe hat stets auch den Nächsten im Blick. Während die Pharisäer für jeden Tag im Jahr ein eigenes Gesetz hatten, konnte Jesus diese Gesetze in seinem Liebesgebot zusammenfassen. Wer Gott, den Nächsten und die gesamte Schöpfung liebt, wie er auch sich selbst liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Wie schwierig mag das für jene Menschen sein, die sich selbst nicht lieben und mit ihren Grenzen nicht annehmen können? Für jene, die die Liebe in sich nicht spüren? Wie sollen sie den Nächsten lieben, der ihnen gegenübersteht und somit ferner ist? Jesus macht deutlich, dass wir erst in unser Innerstes schauen sollen, um dort die Öffnung für die Liebe zu finden. Mit dieser Liebe gilt es, dem anderen zu begegnen und ihm zum Segen zu werden.

Jesus selbst ist seinen Weg in dieser Wahrheit gegangen und der Liebe bis zum Lebensende treu geblieben. Denn für ihn war es das Wichtigste, in der Wahrheit der Liebe Gottes zu leben und zu sterben. Ein unverfälschtes Leben zu führen war ihm wesentlicher, als sein Leben mit faulen Kompromissen zu verlängern. Er ist Mensch geworden, um die Liebe Gottes zu bezeugen. Dieses Zeugnis finden wir nicht nur in seinen Worten, sondern in seinen Begegnungen mit den Menschen und in der Wahrhaftigkeit seines Lebens. Das hat ihm das Leben gekostet. Natürlich hätte Jesus dem Tod entgehen können, wenn er seiner Gottessohnschaft widersprochen und die Liebe verleugnet hätte. Damit hätte er aber sein eigenes Wesen verleugnet.

Angst und Macht behindern die Menschen darin, die Liebe und damit die eigene Wahrheit zu leben. Sie heulen mit den Wölfen, wie es so schön heißt, weil sie nicht den Mut haben, sich dem vermeintlich Stärkeren entgegenzustellen. Menschen in Machtpositionen spielen mit der Angst der anderen – sei es im Beruf, in Institutionen oder in der Kirche. Über die Jahrhunderte sind Menschen in der Kirche zermürbt worden, wie man in „Die Macht der Päpste“ lesen kann. Die Obrigen haben ihnen Angst eingejagt und sie klein gemacht. Wird die Ausübung von Macht nicht hinterfragt und kontrolliert, kann die Machtgier schweren menschlichen Schaden anrichten. Warum fordert niemand Putin auf, in die Gesichter der traumatisierten Kinder zu schauen?

Selbst die Jünger Jesu haben ihrer Angst nachgegeben. Bis auf Johannes war keiner von ihnen unter dem Kreuz. Nur er und Maria haben Jesus beigestanden. Alle anderen sind davongelaufen, weil es um ihr Leben ging. Ihnen war ihr Leben wichtiger als die Wahrheit.

Selbst Jesus spürte, welch großer Druck auf ihm lastet. Seine Bitte: „Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir!“ (Lk 22,42) ist menschlich. Als Mensch musste er Unvorstellbares aushalten und wäre es nicht verständlich gewesen, wenn er den Kopf aus der Schlinge gezogen hätte? Jesus ist seiner Wahrheit treu geblieben und hatte die Kraft, durch die Angst hindurchzugehen. Sein Vertrauen in den Vater hat ihn getragen. „Ich bin der ‚Ich-bin-da‘“, sagt Jahwe über sich selbst in Ex 3,14. Darin liegt ein Versprechen für jeden Menschen, durch das die unendliche Liebe Gottes hindurchstrahlt. Sie war Jesu Kraftquelle. Er war in seinen Dunkelheiten nicht allein und konnte trotz aller Not und Qual seinen Weg der Hoffnung und der Liebe gehen.

Gott ähnlich können wir nur auf dem Weg der Liebe werden – der Liebe zum Nächsten und zur gesamten Schöpfung. In einem Gebet heißt es: „Mit meinen Grenzen grenze ich an Gott“. Das ist eine Einladung an uns, uns immer wieder an die Liebe heranzuwagen und heranzutasten, die keine Grenzen kennt. Wir werden das aufgrund unserer eigenen Grenzen niemals vollkommen schaffen. Aber wenn wir uns trotzdem auf diesen unendlichen Weg machen, kann unsere Liebe zum Segen für uns selbst, für die gesamte Menschheit und für die Schöpfung werden, die Gott uns anvertraut

Wahrlich, wahrlich, das war Gottes Sohn

Karfreitag

Mt 27,27-54

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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