Predigtreihe in den Advents- und Weihnachtstagen – „Wertschätzung“

Wie sehr braucht jeder Mensch Wertschätzung! Wie sehr braucht er ein gutes Wort für sein Leben! Wir spüren selbst, wie es unserem Leben Kraft und Mut gibt, wenn uns Wertschätzung geschenkt wird. Es ist eine Grundweisheit des Lebens, dass man die Welt durch Wertschätzung gestalten und lebendig halten kann.

Jemandem Wertschätzung zu schenken, macht uns oft Mühe – vor allem, wenn sie auf Menschen bezogen sein soll, mit denen wir nicht gut vertraut sind oder mit denen wir uns schwer tun. Es macht uns Mühe bei Menschen, von denen wir enttäuscht wurden oder die uns verletzt haben. Manchmal sind wir auch einfach gleichgültig und vergessen daher, einen Menschen wertzuschätzen. Aus christlicher Sicht ist es wichtig, gerade an diesen Stellen genauer hinzuschauen und sich klarzumachen, dass es sich nicht grundsätzlich um einen schlechten Menschen handelt, wenn wir von den Taten, Gedanken oder Gefühlen eines anderen enttäuscht wurden oder mit jemandem in Konflikt stehen. Jeder Mensch hat Schwächen und Fehler, bleibt aber trotzdem ein wertvoller Mensch. Es ist gut, dies auszusprechen. Sind wir uns bewusst, dass wir manchmal selbst Menschen verletzen, obwohl wir das nicht möchten? Wenn wir erkennen, dass wir begrenzte Menschen sind, können wir demütig werden und andere auch in schwierigen Fällen wertschätzen. Das fällt umso leichter, je häufiger wir selbst Wertschätzung erfahren.

Wertschätzung geschenkt zu bekommen, bereitet Freude, schenkt Kraft und Ermutigung, richtet auf. Wertschätzung lässt im Menschen die Motivation wachsen, die eigenen Aufgaben sorgfältig und mit Lebensfreude anzugehen und gute Dinge weiterzutragen. Wir spüren selbst, dass es ein Segen für die Menschen ist, mit denen wir zusammen sind, wenn uns Wertschätzung geschenkt wird. Wertschätzung bewirkt Leben und Lebenskraft.

Zur Wertschätzung gehört aber auch Kritik. Kritik ist entscheidend für den Reifeprozess eines Menschen. Manche akzeptieren keine Kritik, weil sie darin die Quelle für Streit sehen. Aber was bedeutet es für einen Menschen und seine Haltung, wenn er niemals Kritik erfährt? Selbst wenn es wichtig ist, dass ein Mensch gehalten und getragen wird, ist es unverzichtbar, dass er seine Haltung hinterfragt. Kritik kann manchmal vor Schlimmerem bewahren. Worauf es ankommt, ist die Art, in der die Kritik formuliert ist, und die Weise, in der wir mit dem Menschen, den wir kritisieren, umgehen. Der Ton macht die Musik. Mit welchen Augen schauen wir den anderen bei der Kritik an? Sind wir ihm zugewandt? Bildet die Kritik den Schwerpunkt oder achten wir darauf, dass es eine Balance von Lob und Tadel gibt? Kritik macht deutlich, dass wir mit einem Menschen weiter seinen Weg in der Liebe und in der Menschlichkeit gehen möchten. Kritik ist wichtig, damit dieser Weg ein guter Weg bleibt.

Ich habe in dieser Woche mit einigen Schülerinnen und Schülern über dieses Thema gesprochen und sie haben mir von Erfahrungen im Leben erzählt, in denen sie es verpasst haben, Wertschätzung auszusprechen. Eine Schülerin berichtete mir von einem Mathematiklehrer an ihrer früheren Schule, dem sie neben der Mathematik für die Lebensimpulse dankbar ist, die sie von ihm vermittelt bekommen hat. „Ich habe es ihm viel zu wenig gesagt und gedankt. Ich habe die Chance verpasst“, hat sie zugegeben.
Eine andere Schülerin erzählte von ihrer Lese-Rechtschreibschwäche, bei der ihr eine Deutschlehrerin so geholfen hat, dass sie ihre Schwäche mit dieser Lehrerin zusammen bezwingen konnte. „Ich habe es ihr viel zu wenig gesagt“, resümierte auch diese Schülerin. Ich habe die beiden Schülerinnen daraufhin danach gefragt, wo dieser Lehrer und diese Lehrerin heute leben. Wir haben die Adressen gefunden. Verpasste Chancen kann man nachholen.
Die beiden Schülerinnen werden ihre Wertschätzung nun nachträglich in Briefen ausdrücken. Stellen Sie sich vor, was diese Wertschätzung bewirken kann, wenn der Lehrer und die Lehrerin die Briefe öffnen und lesen werden.

Folgende Frage eines Schülers habe ich in seinem Gesicht gesehen. Wie steht es mit einer verpassten Chance, wenn derjenige, den man wertschätzt, bereits verstorben ist? Ich habe mich an ein Wort von Johannes XXIII. erinnert: „Die Toten gehören zu den Unsichtbaren, aber nicht zu den Abwesenden“. Wenn wir das glauben können, können wir unsere Wertschätzung auch jetzt noch aussprechen. Wir leben doch mit unseren Verstorbenen; wir leben doch mit den Menschen, die uns in die Herrlichkeit Gottes vorausgegangen sind. Im Gesicht des Schülers veränderte sich etwas, als er diese Worte hörte. Er fand etwas Trost darin und wird vielleicht versuchen, die verpasste Wertschätzung nachzuholen.

Als zweites lohnt ein Blick auf den Menschen, der die Wertschätzung empfängt. Geben ist manchmal leichter als Nehmen. Das wird besonders im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern deutlich. Eltern denken immer, sie müssten etwas für ihre Kinder tun. Im Alter dreht sich dieses Verhältnis oft. Dann denken die Kinder, sie müssten etwas für ihre Eltern tun, weil diese nicht mehr so recht können. Den Eltern fällt diese veränderte Rolle oft schwer. Es ist aber wichtig, Wertschätzung zulassen zu können. Es gehört zum Leben.

Natürlich können wir von Wertschätzung auch abhängig werden. Dann wird es wirklich problematisch. Wenn wir nur noch etwas sagen, um anderen zu gefallen, geht die eigene Wahrhaftigkeit verloren. Es kann so weit kommen, dass wir das Rückgrat und sogar unsere Persönlichkeit verlieren. Hier spürt man, dass ein Mensch unabhängig und bei der Wahrheit und Wahrhaftigkeit bleiben muss. Wenn er allerdings zu unabhängig wird und meint, dass er allein durchs Leben kommt und auf die Wertschätzung anderer nicht mehr angewiesen ist, denke ich an ein wunderbares Wort von Martin Buber: „Ich bin, weil du bist“. Wie viel haben wir anderen Menschen zu verdanken! Warum werden wir überheblich? Selbst wenn wir viel Wertschätzung empfangen können, müssen wir das Leben weiterhin in Bescheidenheit und Demut angehen. Wir brauchen Unterstützung, weil wir begrenzte Menschen sind und bleiben.

Das führt uns zum heutigen Evangelium. Johannes der Täufer trägt eine Wertschätzung für Jesus von Nazareth in sich, die größer und grenzenloser nicht sein könnte. Vielleicht kennen Sie den Isenheimer Altar, auf dem Jesus auf grausamste Weise zerfetzt dargestellt ist. Die damals grassierende Pest wurde mit ihren Folgen in seinen Körper hineingemalt. Johannes steht neben dem Kreuz, obwohl er zum Zeitpunkt der Kreuzigung eigentlich schon lange tot war. Er ist somit kein Augenzeuge. Der Maler will etwas anderes verdeutlichen. Johannes zeigt mit seinem Zeigefinger auf Jesus. Auf der unteren Seite des Bildes lesen wir: „Jener muss wachsen, ich muss abnehmen“. Er nimmt sich selbst zurück und schenkt dafür seine ganze Wertschätzung dem Messias, dem Heiland der Welt. Johannes war von Scharen von Menschen umgeben, die zu ihm gekommen sind und ihm Wertschätzung und Lobpreis gegeben haben. Und trotzdem hat er die Größe zu sagen, dass er nicht selbst der Nabel der Welt ist, sondern dass nach ihm jemand kommt, der größer ist. Er lädt die Menschen ein, den eigenen Glauben persönlich zu reflektieren. Wir selbst sind verantwortlich für unseren Glauben und unser Leben. Wir können nicht immer alles auf den anderen schieben. Dafür braucht es eine persönliche Umkehr. Das Bild der Wüste, das wir im heutigen Evangelium finden, stellt einen Ort des Rückzugs und der Reflexion dar.
Carlo Caretto sagte an einer Stelle: „Auch wenn du nicht in die Sahara gehen kannst, musst du in deinem Alltag Wüste schaffen“. Es braucht einen Ort der Stille, wo wir mit Gott allein sein können, wo wir uns von ihm anschauen lassen. Wir dürfen ihm dort in aller Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit begegnen. Wir brauchen die Wüste, um in uns einzukehren, über unser Leben zu reflektieren und zur Umkehr kommen zu können.

Der große Unterschied zwischen Johannes und Jesus liegt darin, dass Johannes der Übergang zwischen dem alten und dem neuen Testament ist. Das Bild des strafenden Gottes liegt noch tief in seinem Herzen. Er lehrt, dass wir die Wahl zwischen Leben und Tod, zwischen Aufrichtigkeit und Vernichtung haben. Wenn wir nicht umkehren, wird die Strafe Gottes uns treffen. Dies ändert sich mit Jesus, der den Menschen in der Liebe zur Umkehr ermutigen möchte. Er will den Menschen mit seinem Herzen berühren und ihn dadurch innerlich verwandeln.

An den Schluss möchte ich ein Wort der Tochter von Sigmund Freud, Anna Freud, setzen: „Die meisten Menschen besaßen kein Gewissen, sie wurden maßgeblich getrieben von sozialer Angst“. Jesus hingegen macht keine Angst. Jesus schenkt Liebe und Wertschätzung ohne Wenn und Aber. Ich wünsche uns, dass wir bereit sind, seine Wertschätzung in Demut und Liebe zu empfangen und tief in unser Herz hineinzulassen.

Wertschätzung schenken und empfangen

2. Advent
Lk 3,1-6
Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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